Supermärkte unterliegen bislang einer interessanten Gesetzmäßigkeit – so verhält es sich zu bestimmten Tageszeiten durchaus so, dass sich kein einziger Kunde an der Kasse einfinden will. Was mitunter den Kassierer in eine Art Sitzschlaf versinken lässt, muss er doch seine Zeit dort abwarten – es könnte schließlich ein einzelner, versprengter Kaufwilliger bei ihm eintreffen und seine Aufmerksamkeit fordern. Dann wiederum gibt es solche Tageszeiten, da überschlagen sich geradezu die Einkaufswägen mit ihren von der Eile des Alltags getriebenen zweibeinigen Anschiebern, um schnellstmöglich durch die Gänge des Supermarktes manövriert zu werden. Ziel sind jedes Mal die immer länger werdenden Schlangen vor den Kassen, wo nun die Kassierer – den Sitzschlaf längst vergessen – in monotonen Bewegungen immerfort die Waren über den Scanner ziehen. Freilich will man selten länger als nötig im Supermarkt verweilen, ist doch die geopferte Freizeit kostbar – so gilt es, in der Schlange eine gute Position zu ergattern, möglichst weit vorne sollte es sein, aber auf jeden Fall in jener Reihe, die schneller vorrücken lässt, als die benachbarten. Jeder, der diesen Vorgang einmal beobachtet hat, wird feststellen, dass die Schlangen hierbei nicht unerhebliche Unterschiede aufweisen – man kann freilich ganze Minuten gewinnen, erwischt man die Richtige unter ihnen!
In soeben beschriebener Szenerie ist es natürlich nicht verwunderlich, dass sich besonders Berufstätige in das Gedränge stürzen, da ihnen keine Wahl bleibt, die Besorgungen zu anderer Zeit als nach Arbeitsende oder samstags zu erledigen. Jedoch bleibt festzuhalten, so wird jede Analyse der anstehenden Mengen zeigen, dass sich immer wieder auch Rentner unter Selbige mischen – was möglicherweise eine Frage aufwirft. Die Eigenheit des Rentner-Daseins ist es schließlich, keinen festen Beruf mehr ausüben zu müssen, so dass jene Personen daher augenscheinlich in die glückliche Lage versetzt sind, ihren Alltag freier gestalten zu können. Was bewegt demnach einige Individuen dieser Gruppe, dennoch mit den restlichen, arbeitenden Massen ihre Einkäufe zu erledigen?
Vielleicht muss manch ein Rentner weiterhin einer Tätigkeit nachgehen, da seine finanzielle Situation dies erfordert. Oder er ist ehrenamtlich tätig und so beschäftigt, dass er die banalen Dinge wie Einkaufen auf die Randzeiten verlagert. Viele Gründe sind denkbar, doch sollte man bei solchen Überlegungen auch nicht die Macht der Gewohnheit unterschätzen, die einen Menschen durchaus zu prägen imstande ist. Vielleicht sind in manchen Fällen sogar weitere Emotionen im Spiel, deren Zusammenwirken ungleich komplizierter ist.
Agathe, 69 Jahre alt, verwitwet und wohlhabend, war ein Mensch der Gewohnheit. Bereits als ihr Mann noch lebte, verbrachte Agathe die meiste Zeit des Tages daheim, da sie nicht gezwungen war, einem Gelderwerb nachzugehen. Agathe pries stets vor sich selbst und wo möglich vor anderen ihre angenehme Lage, ihren finanziellen Wohlstand und ihre damit verbundenen Möglichkeiten. Nicht zuletzt diesem Umstand war es zu verdanken, dass Agathes Freundeskreis schrumpfte, und ihre so oft erwähnten Möglichkeiten im Wesentlichen ungenutzt blieben.
War Agathe einsam? Nein, sie, Agathe, war nicht einsam! Das versicherte sie sich oft, es war eben der Neid der anderen, weshalb es kaum noch Treffen mit den alten Freunden gab. Aber Agathe konnte ebenso gut auf die Treffen verzichten. Wer war sie denn, sich von anderen abhängig zu machen?
Sie hatte es sich noch zu Lebzeiten ihres Mannes eingerichtet, täglich um die Abendzeit einen Spaziergang zu machen. Dabei war ihr einmal eingefallen, dass sie nicht genügend Butter daheim hatten, so hatte sie diese noch rasch im nahe gelegenen Supermarkt besorgt. Bisher hatte sie oft einen Lebensmittel-Liefer-Service genutzt, und wenn sie selbst einkaufen gegangen war, dann eher um die Mittagszeit, wenn es leer war. Diesmal jedoch war es eine Viertelstunde vor Ladenschluss und das Gedränge entsprechend groß gewesen. Sie hatte mit ihrer raschen Auffassungsgabe sofort die schnellste Schlange erspäht, war sogar schneller dort gewesen als eine andere Frau, die mit einer Krücke unterwegs gewesen war. Der Kassierer war genervt gewesen, da es inzwischen bereits kurz nach Geschäftsschluss war – aber Agathe hatte den Laden rechtzeitig betreten, und somit das Recht erworben, bedient zu werden. Es war ja nicht ihre Schuld, dass der andere es nur zum Kassierer gebracht hatte, es konnte eben nicht jeder etwas werden. Am Ende war sie stolz nach Hause gegangen, schließlich hatte sie sogar den Mann in der Schlange neben sich überholt! Dieses Erfolgserlebnis hatte sich in Agathes Unterbewusstsein eingenistet, sie gleichsam beflügelt, weitere Erfahrungen dieser Art zu sammeln. Bald verband sie ihre abendlichen Spaziergänge mit Besorgungen im Supermarkt, immer häufiger wurden sie, bis es Agathe zu einer lieben alltäglichen Gewohnheit geworden war. Sie stellte fest, dass sie besonders gute Chancen hatte, wenn sie nur wenig kaufte, denn dann wurde sie öfter von Leuten vor ihr in der Schlange vorbei gelassen. Wenn sie ihrem Mann dann von ihrem Tag erzählte, konnte sie natürlich den Höhepunkt ihrer Erlebnisse selten auslassen – was es wieder für ein Gedränge gegeben habe im Supermarkt, und wie die Leute ihre Wägen kreuz und quer geschoben hätten, ja, manchmal war sogar eine Mutter mit Kinderwagen unterwegs gewesen und hatte tatsächlich einen der Gänge vollkommen blockiert. Wie genervt der Kassierer geschaut habe, obwohl sie, Agathe, den Laden doch ordentlich sogar noch einige Minuten vor Schluss betreten hätte. Dass die Leute aber auch immer alle auf einmal einkaufen gehen mussten!
Ob sie nicht einfach zu einer anderen Tageszeit gehen wollte, hatte ihr Mann einmal gefragt. Und warum sie eigentlich jeden Tag etwas einzukaufen habe, das müsste doch mit ein- oder zweimal die Woche auch zu machen sein. Agathe war empört gewesen. Der Einkauf war doch mit ihrem Abendspaziergang so gut zu verbinden, da musste sie nicht zweimal am Tag aus dem Haus gehen! Und überhaupt, sollte ihr Mann doch froh sein, dass sie die Einkäufe so gewissenhaft ausführte, so dass nie etwas fehlte und er sogar noch täglich frisches Obst oder Gemüse auf dem Tisch hatte. Doch für einen kurzen Augenblick waren Gedanken aufgeblitzt, die vielleicht direkt aus Agathes Innerem her rührten. Waren die häufigen Einkäufe wirklich notwendig? Warum fühlte sie sich wohl, wenn sie plötzlich von vielen Menschen umgeben war? Und schenkte ihr der Kassierer nicht mehr Aufmerksamkeit, wenn er abends entnervt auf seinen Feierabend wartete, sie aber noch abkassieren musste? Unsinn, hatte sogleich eine Stimme dagegen gesagt, natürlich waren die Einkäufe so am sinnvollsten – es war eben eine Tatsache, hatte sich Agathe überzeugt, dass ihr Mann schlicht und einfach keinen Blick hatte für den Haushalt und alles, was dazu gehörte.
Jetzt, da Agathes Mann von ihr gegangen war, sah sie keine Notwendigkeit, die abendlichen Einkäufe deshalb schleifen zu lassen. Es tat ihr gut, weiterhin spazieren zu gehen, und es sprach nichts dagegen, auch für sich selbst frische Waren zu besorgen. Die Macht der Gewohnheit eben.
Es ist Montagabend, Zeit für den Gang zum Supermarkt. Gott sei dank, denn gestern war Sonntag, und sonntags haben die Geschäfte ja nicht geöffnet. Agathe holt sich einen Einkaufswagen und steuert los. Noch ganze zehn Minuten, bis der Supermarkt schließt, sie kann sich also Zeit lassen. Ein Blick zur Kasse genügt, um zu sehen, dass noch viele Menschen anstehen. Mit beiden Händen auf der Stange fühlt sie sich sicher, dies ist ihre gewohnte Position. Sie kennt jeden Gang und jedes Regal, fährt auf und ab und überlegt, was sie wohl brauchen könnte. Da! Im zweiten Regal ist der Zucker falsch eingeordnet, er gehört ein Fach höher. Außerdem fehlt beim Mehl ein Preisschild. Agathe düst los, holt einen Angestellten. Der sehnt sich sichtlich seinen Feierabend herbei, aber Ordnung muss eben sein. Nachdem er widerwillig den Zucker umgeräumt und eine Preisauszeichnung geholt hat, will er wissen, was Agathe jetzt braucht davon. Agathe denkt nach, aber nein, Zucker und Mehl hat sie noch zu Hause – danke, sie braucht nichts davon. Etwas verwirrt und kopfschüttelnd zieht der Angestellte von dannen.
Agathe fährt noch eine Runde, sie kommt am Gemüse vorbei. Trotz der späten Stunde sieht das meiste erstaunlich frisch aus – bis auf die Radieschen. Die Blätter hängen, die magenta-farbenen Kugeln sehen schrumpelig aus. Ein prüfender Griff – ja, sind ziemlich weich. Agathe lädt einen Bund Radieschen in den Wagen und fährt zur Kasse. Mit prüfendem Blick beäugt sie die zwei Schlangen. Rechts fünf Leute, links nur vier, Agathe ist schnell entschlossen, geht nach links. Vor ihr steht ein junger Mann an, sein Wagen ist ziemlich voll. Blick nach rechts – die Wägen in der rechten Schlange scheinen nicht so voll zu sein. Doch besser wechseln? Lieber nicht, wenn man sich zum Wechseln entschließt und dann ist die erste Schlange schneller, ärgert man sich hinterher mehr, weil man eigentlich instinktiv richtig lag. Und auf Agathes Instinkt ist meist Verlass.
Was ist das? Der junge Mann vor ihr schaut ins Zeitschriftenregal neben der Kasse, liest etwas auf einem Heft. Wenn er noch aussucht, kann Agathe ja vorbei – schon setzt sie an zum Überholen, aber er lässt ihr keinen Platz. Sie fährt ihm gegen die Hacken, es ist mehr ein Versehen. Aber wenn er liest, steht er ja genau genommen nicht an! In der rechten Schlange geht es voran, noch steht es allerdings gut für Agathe, weil ihre Schlange kürzer ist. Jetzt tut sich auch auf ihrer Seite etwas – vor dem jungen Mann rücken die Menschen weiter. Aber der Kerl merkt es offenbar nicht, sein Blick ist wieder auf den Zeitschriften! Agathe mustert den Mann, so zwischen 20 und 30 wird er sein, blond, groß. Sie kennt ihn nicht, wahrscheinlich kauft er hier sonst nicht ein. Sie beugt sich zur Seite, schaut an ihm vorbei – vor seinem Wagen sind jetzt bis zum nächsten Ansteher mindestens 40 Zentimeter Platz. Sie muss ihm einen Hinweis geben, da er selbst nicht aufpasst. Sie fährt mit ihrem Wagen ganz dicht an ihn heran, das Metall berührt fast seinen Gürtel. Das Wagenende zittert, da Agathe den Wagen so fest und konzentriert hält. Das Zittern muss sich auf den Gürtel übertragen haben, denn der Blondschopf wechselt sein Gewicht auf das andere Bein. Aber er liest immer noch! Agathe entrüstet sich innerlich, man sollte beim Schlangestehen wirklich nicht so unaufmerksam sein. Rechts, in der anderen Reihe, droht man schon, sich an ihr vorbei zu schieben. Sie kann gar nicht anders, und schiebt mit dem Wagen nun etwas energischer an den jungen Mann heran. Patsch, macht es, als das Metall gegen sein Hinterteil fährt. Aha, jetzt hat er es offenbar registriert, denn er dreht sich um und wirft Agathe einen finsteren Blick zu. Traumtänzer, denkt Agathe bei sich, hoffentlich passt er jetzt besser auf. Gut, dass er schaut, vielleicht sieht er dann, dass Agathe nur ganz wenig kaufen will und lässt sie vorbei. Das wäre nur höflich.
Aber er sagt nichts, mehr als Schauen passiert nicht. Es frustriert Agathe über die Maßen, wieso schiebt er denn nicht weiter? Wenn er lesen will, soll er in Gottes Namen die Zeitschrift mitnehmen, lesen kann er ja auch zu Hause. Doch nein, der Blonde stellt sich gemächlich wieder auf sein anderes Bein, lässt den Blick schweifen. Jetzt geschieht es endgültig, die rechte Schlange zieht vorbei, und vor ihrem Blockierer, bemerkt Agathe, klaffen nun sicherlich ganze 60 Zentimeter Lücke. Agathe kann auch die Schlange nicht mehr wechseln, hinter ihr steht schon jemand, es ist kein Platz zum Manövrieren. Agathe verleiht dem Wort „Stoßzeit“ ganz neue Bedeutung, als sie Schwung holt, und dem Unverschämten ihr Metall-Gefährt nun kräftig hinten hinein drückt, so dass ihn die pure Wucht eigentlich nach vorne zwingen müsste.
Doch zu Agathes Entsetzen passiert eher das Gegenteil, denn die Vorderräder ihres Wagens treffen seine Füße, kurz sieht es so aus, als verlöre er das Gleichgewicht, als er nach hinten kippt. Er bettet sein Gesäß auf den vorderen Metallstangen von Agathes Einkaufswagen. Kurz erwägt sie, ob sie vielleicht doch zu heftig an ihn gefahren ist, ob er gestolpert ist. Doch er steht nicht mehr auf, bleibt einfach dort sitzen. Da er groß und einigermaßen schwer ist, auch noch die Füße vorne breit aufgestellt hat, ist Agathes Wagen wie auf der Stelle fest zementiert. Sie schnappt nach Luft. Ihr Positionsvorteil ist längst dahin, rechts sind sie auf der schnellen Spur. Der junge Mann dreht langsam und wie ein Uhu nur den Kopf zu ihr herum. Sie starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen an, er allerdings sieht lässig aus, überlegen, kühl. Jetzt meint Agathe auch noch den Ansatz eines frechen Grinsens zu erkennen.
Er dreht sich wieder nach vorne, verändert seine Körperhaltung aber keinen Millimeter. Innerlich kocht Agathe, aber sie kann ihren Wagen nicht mehr bewegen, nicht nach vorne, und hinter ihr steht der Nächste. Vor dem Sitzstreikenden zahlt gerade der Kunde. Der junge Mann wäre jetzt dran. Langsam, lasziv, richtet er sich wieder auf, geht um seinen Wagen herum auf dessen Vorderseite. Ohne auch nur das kleinste Stückchen mit seinem Wagen von der Stelle zu rücken, lädt er seine Sachen auf das Band. Betont gemächlich tut er das, eins nach dem andern. Dann beugt er sich an Agathe vorbei, angelt sich noch ein Päckchen Zigaretten aus der Auslage. Sie weicht zurück. Der blonde Mann zahlt, mit EC-Karte, was immer länger dauert als bar, dann packt er seine Sachen wieder in den Wagen. Der steht immer noch hinter ihm und vor Agathe, und erst, als er alles eingeladen hat, fährt er mit dem Wagen nach draußen.
Sie ist so verblüfft, dass sie beinahe vergisst, selbst weiter zu schieben. Sie legt den Bund Radieschen auf das Band. Ihr Blick wandert kurz zur Uhr, es ist zwei Minuten nach Ladenschluss. Warum das Gemüse so gammelig sei, fragt sie den Kassierer, und zeigt auf die Radieschen. Der rollt mit den Augen – ob sie es nun kaufen wolle oder nicht, es sei schon spät. Da gerät er bei Agathe an die Richtige, besonders heute. Es sei ja wohl nicht ihre Schuld, wenn die Ware verdorben sei, und mindestens billiger sollte es schon verkauft werden in dem Zustand.
Am Ende bekommt Agathe den Bund für die Hälfte, und geht nach Hause. Die Erlebnisse gehen ihr noch einmal durch den Kopf. Wäre ihr Mann noch da, hätte sie ihm an diesem Tag viel erzählen können, von der unverschämten Jugend heutzutage, und den Supermärkten, die nicht mehr wirklich auf anständige Ware achten. Die jungen Leute – erst an der Kasse nicht aufpassen, und dann auch noch fremdes Eigentum besetzen. Schließlich ist es für die Zeit des Einkaufs ihr Wagen. Zum Glück, denkt Agathe, kauft der Blonde ja sonst nicht in ihrem Supermarkt ein. Und sollte jemand anders nicht aufpassen, dann würde sie wieder Hinweise geben, wenn nötig mit etwas Nachdruck. Denn morgen, schon morgen, würde Agathe wieder einkaufen gehen. Radieschen mag sie ohnehin nicht besonders.
Recht am Text: Anja Teuner. Keine Veröffentlichung oder Kopie ohne meine Zustimmung.
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