Es war einmal in einem weit entfernten Reich, seit Generationen von einer Familie von Diktatoren regiert. Der gegenwärtige Herrscher war bekannt für seine besondere Grausamkeit – schlimmer noch als seine Vorfahren kannte er keine Gnade, und wenn ihm jemand auch nur annähernd gefährlich werden konnte, ließ er ihn umbringen.
Es ist nur zu verständlich, dass der Diktator Feinde hatte – die einen wollten ihn vom Thron stürzen, um das Land zu befreien, die anderen wollten selbst Herrscher werden. Ständig von dieser Bedrohung umgeben, wurde der Diktator misstrauisch, und sicherte sich ab, wo immer er konnte. In seinem Palast war eine ganze Armee zu seinem Schutz aufgestellt, sein Essen wurde vorgekostet, und er verließ die Mauern nur selten. Er beutete die Menschen in seinem Reich aus, um seine Position und seinen eigenen Wohlstand zu sichern. Er hatte drei Söhne, seine Frau jedoch lebte nicht mehr.
Eines Tages hatte er sie im Palastgarten mit einer der Wachen sprechen sehen. Zum Schluss hatten sie gelacht, und sie hatte dem Mann beim Gehen gewunken. Dieses Bild hatte sich eingebrannt in seine Netzhaut und sein Gedächtnis – worüber hatten sie gelacht? Hatten sie sich gut gekannt? Es hatte den Anschein erweckt. Er ließ seine Frau heimlich beschatten. Es gab zwar keine weiteren Verdachtsmomente, und sie beteuerte sogar, dass sie ihn liebte – aber konnte man ihn wirklich lieben?
Respekt hätte sie vor ihm haben sollen. Nicht mit anderen Männern in seinem Garten lachen. Nach einer geraumen Zeit war er sich sicher, dass sie über ihn gelacht haben mussten. Hinter seinem Rücken! Er war zu einer Witzfigur geworden, von seiner eigenen Frau verhöhnt, und musste eingreifen. Nach einigen Monaten war er so weit, dass er seinen Medikus anwies, ihm giftige Kräuter zu bringen. Es war ein Leichtes gewesen, sie unter ihr Essen zu mischen. Lange hatte sie nicht gelitten – nur eine Nacht, erfüllt von unglaublichen Leibesschmerzen, bis es sie schließlich dahin gerafft hatte. Doch für seine monatelangen, zermalmenden und quälenden Zweifel war dies fast noch zu wenig gewesen.
Nun waren ihm also nur seine Söhne geblieben. Sein ältester war ihm der liebste, augenblicklich noch ein unschuldiges Kind, und oft rief er ihn abends zu sich, um mit ihm über seine glanzvolle Zukunft zu sprechen. Wenn er, der Diktator, einmal sterben würde, sollte sein Sohn ihm nachfolgen.
„Wenn ich einmal nicht mehr bin, mein Sohn“, sagte er zu ihm, „dann wirst du den Thron besteigen. Der Palast wird dir gehören, und alles darin ebenso. Die Schätze, die in der Schatzkammer lagern, genauso wie die Haremsdamen. Dann kannst du tun und lassen, was immer du möchtest.“
„Kann ich auch einmal hinausgehen, Vater? Kann ich auf den Basar gehen, und kann ich dort mit den anderen Kindern spielen?“
„Mein Sohn“, antwortete ihm der Diktator, „wenn du erst einmal Herrscher bist, wirst du keine Zeit haben zum Spielen. Es wird außerdem viel zu gefährlich sein. All die anderen wollen ebenfalls Herrscher werden, und du musst dich vorsehen! Du darfst ihnen niemals den Rücken zuwenden!“
„Aber kann ich meine Freunde zu mir in den Palast einladen und können wir dort zusammen spielen?“
„Mein Sohn, die Mächtigen haben keine echten Freunde. Dies liegt nun einmal in der Natur der Sache. Doch du wirst reich sein, und kannst dir alles kaufen, was immer du willst.“
„Dann möchte ich einen Rosenstrauch haben, Vater! Rosen duften so wunderbar, und ich möchte jeden Tag daran riechen können.“
Der Diktator lächelte – welch bescheidene Wünsche sein Sohn doch hatte! Welch ein anständiger Mensch er war! Wahrscheinlich der einzig anständige Mensch im ganzen Palast.
Am folgenden Tag ließ der Diktator für seinen Sohn einen Rosenstrauch im Palastgarten pflanzen – dieser wuchs und gedieh, und hatte bald die herrlichsten Blüten.
Der Diktator wurde alt und schwach, und je schwächer er wurde, desto größer wurde die Angst. Es war nicht einfach nur die Angst, dass jemand seine Schwäche ausnutzen würde – schließlich war sein Ältester im Palast! Vielmehr erfüllte den Diktator ein tiefes Grauen vor der Pforte ins Jenseits. Denn müsste er nicht das Schlimmste erwarten? Hatte er nicht in seinem Leben Vieles getan, was ihm einen Platz in ewiger Verdammnis einbringen würde? Die Wächter jener Pforte würden seine Situation nicht verstehen können – was es hieß, auf Erden eine Position wie die seine zu bewahren, und was dazu alles notwendig war. Sie würden nicht begreifen, dass all dies unumstößlich gewesen war, um sein blankes Leben zu sichern. Hinter jeder Treppe, jedem Vorhang lauerte jemand, der seinen Platz – und den seines Sohnes – einnehmen wollte. Oder würden die Wächter der Pforte es verstehen? Was würde ihn erwarten? Nein, sie hatten sicher kein Einsehen, und ihm stünde bis in alle Ewigkeit großes Leiden bevor.
Von seinem Krankenbett aus konnte er in den Palastgarten sehen. Der Rosenstrauch seines Ältesten blühte in voller Schönheit, und der Junge war gerade dabei, den Strauch zu wässern. Danach roch er an all den Blüten, und sein Gesicht war von Frieden erfüllt.
Der Diktator schloss die Augen und ruhte sich einen Moment aus – sein Sohn, seine Hoffnung. Vielleicht würde er ein besserer Herrscher werden als er selbst. Vielleicht würde er die Weisheit mit sich bringen, die ihm selbst gefehlt hatte.
Der Diktator wurde noch älter, und war schließlich ganz ans Bett gefesselt. Seine Schwäche würde seine Feinde auf den Plan rufen – so hatte er viele Vorkehrungen getroffen, um sich und seine Söhne abzusichern. Er hatte im Palastgarten Stacheldraht anbringen lassen, und die meisten Pflanzen waren entfernt worden, um eine weitere Mauer und einige Geschütztürme errichten zu können. Die undankbare Bevölkerung neigte immer mehr zu Aufständen, und außer mit Waffengewalt war dem nicht beizukommen. Doch sie hatten es so gewollt! Einzig der Rosenstrauch seines Sohnes blühte dort noch, schöner denn je. Die Gärtner hatten den Auftrag, diesen Strauch mit der größtmöglichen Sorgfalt zu behandeln. Jedoch konnte der Diktator sich nicht recht erinnern, wann er seinen Sohn zuletzt bei dem Strauch gesehen hatte.
Sein Sohn – sein Stolz. Er besuchte ihn als Einziger jeden Abend, um nach ihm zu sehen – abgesehen von jenen, die dafür bezahlt wurden. Der Junge war zum Mann geworden, und würde ein würdiger Nachfolger sein. Ein Hustenkrampf brachte den Diktator aus seinen so selten seeligen Gedanken, und ließ Schmerzen durch seinen ganzen Körper fahren. Er war abgemagert, seit mehreren Jahren hatte er nicht mehr aufstehen können, und sicher würde es bald zu Ende gehen. Aber aufgeben würde er nicht! Er würde sich den Hütern der Pforte nicht freiwillig ausliefern. Da müssten sie ihn schon holen kommen!
Er hatte alle Vorkehrungen getroffen – die besten Ärzte des Landes versorgten ihn, er nahm diverse Arzneien zu sich, bitter im Geschmack und sündhaft teuer, aber diese Säfte hielten ihn am Leben. Sogar ein Gerät für die Zufuhr von Sauerstoff stand neben seinem Bett, eine neue Erfindung aus fernen Landen. Zu schwach, um selbst zu atmen, waren seine Lungen an Schläuche angeschlossen, und das Leben spendende Gas wurde von einem sich stetig hebenden und senkenden Kolben in seinen Körper gepresst. Er litt unter unsäglichen Schmerzen, doch sicherlich war dies nicht zu vergleichen mit jenen Qualen, die er erfahren müsste, wenn er erst gezwungen war, die Pforte ins Jenseits zu durchschreiten. Wenn er erst bis ins Endlose für seine irdischen Taten würde büßen müssen. Er dämmerte nur noch dahin, sich an die letzten Zünglein des Lebens klammernd, weder in der Lage zu leben, noch zu sterben.
Mit einem Mal hatte der Diktator einen seltsamen Traum. Er stieg eine lange gewundene Treppe hinauf. Er hatte ungewöhnlich viel Kraft, schon lange hatte er keine Treppe mehr steigen können. Er blickte an sich hinunter und bemerkte plötzlich mit Schrecken, dass er gar keine Kleidung trug. Dennoch war ihm auf wundersame Weise nicht kalt. Er stieg weiter empor, und die Neugier wuchs, was sich dort oben wohl befinden würde. Dort angekommen, fand er nur ein diffuses Licht – es war schwierig, einen Raum oder irgendwelche Gegenstände darin auszumachen. Er tastete sich vorwärts, doch konnten seine Finger nichts Reales erfassen. Dann erspähte er in einiger Entfernung einen dunklen Umriss. Als er näher kam, erkannte er eine massive, große Tür, die sich gewaltig vor ihm erhob. An ihren Seiten befanden sich keine Wände, auch der Boden war nicht wirklich auszumachen.
Wo war er? Langsam drehte er sich um, suchte nach bekannten Strukturen. Da! Auf der anderen Seite dieses Raumes – oder wie auch immer man diesen Ort bezeichnen sollte – war eine menschliche Gestalt zu erkennen. Der Diktator ging auf sie zu. Die Gestalt stand da, erhaben und Respekt einflößend, jedoch ohne eine Bedrohung auszustrahlen. Es handelte sich offenbar um einen älteren Mann, der in ein Buch blickte, welches auf einem großen Pult vor ihm lag. Als der Diktator näher kam, blickte die Gestalt auf, und sah ihn an.
„Willkommen“, sagte der Fremde ruhig.
„Wo bin ich?“ fragte der Diktator.
„Die Antwort darauf kennt Ihr schon“, entgegnete der Alte.
„Ich bin in meinem eigenen Traum?“
„Nun, das ist nicht ganz richtig, und nicht ganz falsch – Ihr seht diesen Ort sicherlich so, wie Ihr ihn euch selbst vorstellt.“
„Ich verstehe nicht, was Ihr meint. Ich verlange eine anständige Auskunft!“ rief der Diktator in gewohnt autoritärer Weise – doch ihm fiel sogleich ein, dass er nackt war. Unwillkürlich zuckte er zusammen.
„Kein Grund zur Scham“, sagte der alte Mann. „Ihr seid nur so, wie Ihr seid. Alle Menschen gelangen so vor die Pforte.“
Die Pforte! Die große Tür! Er träumte davon, an der Pforte ins Jenseits zu sein. Sein Unterbewusstsein wollte ihm einen Streich spielen. Doch er fühlte sich lebendig, ohne Schmerzen – er konnte also nicht tot sein. Er würde sich nicht von sich selbst täuschen lassen.
„Ich wache jetzt auf“, sagte er zu sich.
Dies war eine Technik, die er vor langer Zeit gelernt hatte – wenn er schlechte Träume hatte, konnte er sich selbst befehlen, aufzuwachen. Dies hatte ihn oft vor seinen eigenen, schlimmsten Albträumen bewahren können – zumindest manchmal. Nichts geschah.
„Ich wache jetzt auf!“ sagte er noch einmal, lauter.
Der Alte blickte ihn lange und schweigend an. Dann sagte er: „Fühlt in Euch selbst hinein. Ihr wisst, wo Ihr seid.“
Der Diktator tat es, und eine dunkle Ahnung beschlich ihn. Er drehte sich um die eigene Achse, und suchte nach der Treppe, von der er gekommen war. Weil er sie nicht sehen konnte, rannte er in die Richtung, in der er sie vermutete. Er lief und lief, und atmete tief ein – seine Beine trugen ihn so leicht wie seit vielen Jahren nicht mehr. Möglicherweise so leicht, wie noch nie zuvor. Als er keine Treppe finden konnte, blieb er stehen, kaum außer Atem. Er spürte keinen Schmerz – dieses unangenehm vertraute Gefühl, das ihn seit Jahren begleitet hatte.
Als er sich erneut umdrehte sah er, dass er nur wenige Meter vom Pult des Alten entfernt stand. Er war garnicht von der Stelle gekommen!
„Ihr braucht nicht mehr davon laufen,“ meinte der Alte ruhig. „Ihr seid an der letzten Station angekommen.“
„Nein“, murmelte der Diktator, mehr zu sich selbst. „Aber ich habe doch meine Atemmaschine! Mein Körper muss noch leben!“
„Nun, dies ist ein Irrtum“, meinte der Andere, „aber wir haben Euch ohnehin schon seit mindestens zwei Erdenjahren hier erwartet.“
„Ha! So einfach habe ich es euch nicht gemacht! Nicht wahr?“, schrie der Diktator, „nicht wahr?“, und er lief zu der großen Tür. „Und ich werde es euch auch jetzt nicht einfach machen, ich habe meinen eigenen Willen, ich gehe einfach nicht dorthin…“. Er spähte vorsichtig um die Tür herum, doch diese war fest geschlossen, und es war nichts zu erkennen.
„Schwer gemacht habt Ihr es Euch nur selbst, als Ihr nicht gehen wolltet“, erklärte ihm der Alte. „Doch gelebt habt Ihr und gegangen seid Ihr nun schon. Euer Schicksal ist entschieden“. Mit diesen Worten blickte er wieder in sein Buch und las, was dort stand.
Dem Diktator brach der kalte Schweiß aus. Panik stieg in ihm auf, vielleicht eine Panik, die er all die Jahre nur mühsam unterdrückt hatte. All die Versuche, sein Leben in Sicherheit zu bringen, all die Anstrengungen, die er auf sich genommen hatte – nur, um am Ende ausweglos seinem Schicksal ausgeliefert zu sein! Er konnte es nicht ertragen, so hilflos zu sein, nicht ertragen, sich nun zu ergeben. Er starrte den Alten an, wie er so würdevoll dort stand und in das Buch schaute, wahrscheinlich über sein Leben las, las, was er selbst mühsam verdrängt hatte. Vielleicht konnte er den Wächter der Pforte umbringen? Es war ja sonst niemand hier, und er fühlte sich stark. Langsam, dann schneller, machte er einige Schritte auf den alten Mann zu – dieser schien wehrlos, nicht allzu kräftig – doch plötzlich blickte der Wächter wieder auf und sah ihn an. Sein Gesicht schien entspannt, und doch glaubte der Diktator, darin eine Regung zu lesen. Was war es? Furcht etwa?
Nein, es war etwas ganz anderes, etwas, das er noch nie bei einem anderen Menschen in Bezug auf sich gesehen hatte – es war eine Spur von Traurigkeit. War es Mitleid? Oder Bedauern? Oder einfach ein Mitgefühl?
„Ihr könnt passieren“, sagte der Alte ruhig.
Die große Tür schwang auf – dahinter konnte der Diktator weder etwas hören, noch etwas sehen. Keine Schmerzensschreie von verdammten Seelen, die hier ihre ewigen Qualen erlitten.
„Was heißt das, ich kann passieren? Ich werde nicht passieren! Ihr könnt mich nicht zwingen!“
„Nun, es ist Eure Entscheidung, noch so lange hier im Vorraum zu bleiben, wie Ihr benötigt. Doch tretet ruhig einmal in die Nähe der Tür. Euch droht kein Leid.“
Der Diktator konnte es nicht glauben. Ihm drohte kein Leid? Was war mit seiner Strafe? Er blickte zur Tür. Im gleichen Augenblick erfüllte ihn ein Gefühl von großem Frieden, von großer Sicherheit, von Geborgenheit, wie er sie zu Lebzeiten nie gekannt hatte. All dies ging von dem Ort hinter jener großen Tür aus. Er spürte deutlich, dass der Alte ihn nicht belog. Zögernd machte er einen Schritt auf die Tür zu. Es zog ihn geradezu dorthin, und er fühlte, dass von dort keine Bedrohung ausging. Doch er blieb stehen, und drehte sich mit einem Ruck um. Er ging mit einigen raschen Schritten zu dem Pult des Wächters zurück und konnte nicht an sich halten.
„Warum?“ fragte er, mit weit aufgerissenen Augen.
„Warum, fragt Ihr mich? Was genau wollt Ihr denn wissen?“
„Warum darf ich passieren? Was ist mit meiner Strafe? Wieso muss ich nicht – wieso muss ich nicht…“ ihm stockte die Stimme. „Gibt es gar keine, ich meine…“. Er konnte die Worte nicht aussprechen.
„Oh, ich verstehe“, entgegnete ihm der Alte, „doch, auch diese Vorstufe zum ewigen Jenseits gibt es. Doch Ihr müsst nicht dort hindurch – um es mit irdischen Worten zu sagen, Euer Konto ist ausgeglichen, sogar mehr als ausgeglichen.“
Der Diktator war nicht fähig, diese Erklärung zu begreifen.
„Was meint Ihr damit? Mehr als ausgeglichen? Was soll das heißen? Sagt mir, was das heißen soll, oder ich gehe nicht!“
„Nun, es ist Eure Entscheidung. Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt, dann werdet Ihr sie erfahren. Ich weiß jedoch nicht, ob Ihr Euch darüber im Klaren seid, was dieses Wissen für Euch bedeuten wird.“
„Sprecht nicht in Rätseln, alter Mann! Natürlich will ich die Wahrheit wissen! Sprecht, sofort, und lasst nichts aus!“
„So sei es“, sagte der alte Mann, und trat einen Schritt zur Seite, so dass der Diktator in das Buch blicken konnte. Dort sah er eine Szene vor sich, die er vergessen zu haben glaubte. Er sah seine Frau, wie sie im einstmals blühenden Garten mit einer der Wachen sprach. Es war jener Moment, wo sie hinter seinem Rücken gelacht hatten. Doch jetzt konnte er hören, was gesprochen wurde.
„Das glaubt Ihr selbst nicht“, sagte der Wachmann. „Euer Gemahl ist ein grausamer Mann. Er wird kein Einsehen haben. Er hat schon so viel Leid über die Menschen gebracht.“ Er lachte grimmig.
Seine Frau jedoch entgegnete, lächelnd und mit großer Überzeugung: „Ihr werdet schon sehen. Mein Gemahl hat ein Herz, auch, wenn es tief verborgen liegt. Er wird sich besinnen, und dieses Land zum Guten führen!“ Sie sprach mit solcher Herzlichkeit, dass der Wachmann nun seinerseits lächelte.
„Eure Hoheit, wenn Ihr dies sagt, so werde ich neue Hoffnung schöpfen!“
Sie lachte. „Ja, das könnt Ihr, Wachmann, denn ich werde meinen Gemahl, sanft aber stetig, auf den Weg der Liebe zurück bringen.“
Nun lachte auch der Wachmann, und sie winkte ihm zu, als sie sich umdrehte und davon ging.
Der Diktator blickte auf und starrte den alten Mann an. Neuerliche Panik stieg in ihm auf, dieses Mal jedoch von einer anderen Art als zuvor.
Der alte Mann setzte zu einer Erklärung an: „Eure Gemahlin hat Euch zutiefst geliebt, und an Euch geglaubt. Sie hätte euer Herz retten können, wenn Ihr ihr vertraut hättet. Sie war wahrscheinlich – neben euren jungen Söhnen – der einzige solche Mensch auf der Welt. Doch Ihr habt Euch anders entschieden. Ihr wart so sehr erfüllt von Eurer Furcht, von Eurer blinden Suche nach Sicherheit, dass Ihr Euch dem nicht öffnen konntet. Ihr habt Euer Leben in ständiger Flucht verbracht, in Angst und Schwäche, und konntet Eure Möglichkeiten nicht einmal erkennen.“
Und während der Diktator in dem Buch viele Szenen aus seinem Leben sah, fuhr der Alte fort: „Ihr habt Euer gesamtes Leben damit vertan, Euch hinter immer höheren Mauern zu verschanzen, und die Zahl Eurer Feinde stieg, da Ihr keine Liebe in Euer Leben lassen konntet. Keinen einzigen Tag habt Ihr wirklich gelebt, und jede Eurer schlechten Taten rief nur den Zorn anderer und damit noch größere Furcht bei Euch hervor. Um der Angst zu entkommen, habt Ihr versucht, Euren Besitz und Eure Macht auf gewaltsame Weise zu mehren, doch niemals habt Ihr auch nur annähernd Eure wahren Möglichkeiten genutzt. Ihr hättet die Möglichkeit gehabt, das Leben von Tausenden besser zu machen. Stattdessen habt Ihr das Eure verwirkt, habt niemals Freude empfunden, habt sogar am Ende Euer Leben künstlich verlängert, obwohl Ihr nur noch von Schmerzen geplagt wart. Erst jetzt erfahrt Ihr, dass Euer Leben ganz anders gemeint war, doch für Euch ist es bereits zu spät. Deshalb ist Euer Konto ausgeglichen, da Ihr jede Liebe und Freude selbst aus Eurem Leben verbannt habt.“
Der Diktator war sprachlos. Was er gesehen und gehört hatte, ließ langsam eine tiefe, unendlich schmerzliche Erkenntnis in ihm reifen. Dann zuckte ein Gedanke durch sein Bewusstsein.
„Mein Sohn!“, rief er, „mein Sohn wird mir nachfolgen, und er kennt die Liebe in seinem Herzen! Ich habe es gesehen, als er keinen anderen Wunsch hatte, als einen duftenden Rosenstrauch!“.
Der Alte hatte wieder diesen Blick, erfüllt von einem Hauch von Trauer.
„Vielleicht habt Ihr Recht“, sagte er, „ich hoffe es zutiefst. Es ist seine Entscheidung.“ Doch er schien nicht überzeugt.
Im gleichen Moment erschien in dem Buch eine letzte Szene. Da lag er, der Diktator, in seinem Bett, die Augen geschlossen, der Körper von Qualen erfüllt. In einem dämmrigen Schlaf verbrachte er unruhig die nächtlichen Stunden. Sein ältester Sohn betrat das Zimmer, und ging leise und langsam zum Bett seines Vaters. Er beugte sich über ihn, und blickte ihm ins Gesicht. Dann, mit einer einzigen, ruckartigen Bewegung, setzte er die Atemmaschine außer Kraft.
„Nein“, murmelte der Diktator, doch dann hatte er einen Gedanken: sein Sohn hatte ihn erlösen wollen von den irdischen Qualen, hatte ihn endlich gerettet. In dem Buch war nun sein Sohn zu sehen, der sich umdrehte, um den Raum zu verlassen. Sein Gesicht jedoch war hähmisch verzerrt, und der junge Mann sagte zu sich selbst: „Nun ist es aus mit dir, du erbärmlicher alter Greis. Wolltest nicht sterben, wolltest mir den Thron nicht gönnen. Nun wirst du gehen müssen, denn du hast keine Wahl.“
Der Mann, der einst ein Diktator gewesen war, sah von dem Buch seines Lebens auf, fassungslos und nicht fähig, Worte zu finden. Er sah dem alten Wächter ins Gesicht, in dessen Zügen sich nun eindeutig Mitgefühl zeigte. Und was ihm sein Leben lang nicht geschehen war, geschah jetzt, zum allerersten Mal: er vergoss eine Träne, heiß und voll Verzweiflung. Er musste nun los lassen, los lassen von all dem, was er gelebt und gerade gesehen hatte. In seinem Bewusstsein war nur noch ein dumpfes Gefühl der Leere. In einer gleichförmigen Bewegung drehte er sich um und ging mit langsamen Schritten auf die Tür zu. Der Mann, der einst ein Diktator gewesen war, durchschritt die Tür, die sich langsam hinter ihm schloss.
Der alte Wächter blickte wieder in das Buch, das noch aufgeschlagen dort lag.
Er seufzte, und sagte wieder: „Es ist seine Entscheidung.“
In dem Buch war der junge Mann, der nun herrschende Diktator, zu sehen. Er ging in den Garten, der von Türmen und Stacheldraht umgeben war. Dort war noch ein einziger, blühender Rosenstrauch in der Ecke. Der junge Mann spürte in sich hinein, und wurde sich einer Furcht bewusst. Der Furcht, dass seine jüngeren Brüder ihm nachstellen könnten, um seinen Platz einzunehmen. Ohne zu zögern befahl er den Wachen, den Rosenstrauch heraus reißen zu lassen, um dort einen weiteren Geschützturm zu errichten.
Recht am Text: Anja Teuner. Keine Veröffentlichung oder Kopie ohne meine Zustimmung.
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