Der Huber-Schorsch, wie er im Dorf nur genannt wurde, war eigentlich durch und durch ein anständiger Kerl. Wie die meisten im Dorf führte er ein ganz beschauliches Leben, ging seinem Beruf als Landwirt nach und ließ sich nichts zu Schulden kommen. Er stand kurz vor seinem wohlverdienten Ruhestand, und war es ganz zufrieden mit seinem Leben. Manchmal saß er mit seinen Freunden am Stammtisch, und sie tauschten die aktuellsten Neuigkeiten aus. Wobei das die Geburt eines Kälbchens sein konnte oder auch der Regen, der zu lange ausblieb; die ärgerlichen Kartoffelkäfer waren, jahreszeitlich bedingt, manchmal ebenfalls hoch im Kurs. Im Grunde nichts, was es nicht so oder ähnlich in den Vorjahren auch gegeben hätte. Freilich war der Schorsch, redlich und tüchtig, ein eifriger Kirchengänger.
Sonntags ging man – selbstredend! – als anständiger dörfischer Bürger in die Kirche. Dazu zog jeder im Ort sein bestes Sonntagsgewand an, und man traf sich pünktlich zum Glockenschlag auf den hölzernen Bänken. Außer im Krankheitsfall – und das auch nur wenn’s denn schwerer zuschlug – war es die bürgerliche Pflicht, anwesend zu sein und dem lieben Herrgott seine Wertschätzung zu zollen. Und, wie es sich so verhält in den Gemeinden, befindet sich unter der Schar der Frommen immer mindestens einer oder eine, der oder die sich besonders darum bemüht, dass keines der Schäfchen dem sonntäglichen Treff fern bleibt. Und fehlt einer unentschuldigt, so ist es ohne jeden Zweifel in Pflicht und Schuldigkeit dieser Ordnungsbewahrer, den Enthaltsamen unverzüglich aufzusuchen und – höflich aber nachdrücklich, versteht sich – sein Fernbleiben gründlich zu hinterfragen. So war sicher gestellt, dass keiner vom rechten Pfad abkam. Diese gewichtige Aufgabe übernahm im Dorf vom Schorsch die Meier-Brigitte.
Als Frau des Bürgermeisters war es ihre Aufgabe, den Pfarrer bei der Prüfung der Anwesenden zu unterstützen, was sie nur zu gern und aus eigenem Antrieb gewissenhaft und zuverlässig allsonntäglich übernahm. Einer Absprache hatte es nicht bedurft, sie war sich ihrer Verantwortung stets bewusst gewesen. Die flotte End-Dreißigerin – so bezeichnete sie sich heimlich im Geiste selber – war eine stets gepflegte Erscheinung, mit stolzem Kinn und ebensolcher Nase. Ihr blondes Haar war so hell und gleichmäßig gesträhnt, dass es wie in der Shampoo-Werbung aussah, was nicht zuletzt durch das Zutun der örtlichen Friseurniederlassung gewährleistet wurde. Für ein ordentliches Trinkgeld konnte man sich dort guter Leistung und obendrein angemessener Diskretion gewiss sein.
Als die Glocken schlugen, stand Brigitte Meier bereits auf der Empore in der Kirche, um die Hereinkommenden mit einem Nicken zu begrüßen. Von diesem Punkt aus konnte sie stets gut den Überblick bewahren und auch die Kleidung der Dorf-Mitbewohner mustern, ohne, dass dies besonders aufgefallen wäre. Familie Müller beispielsweise kam immer adrett gekleidet, und die Kinder trugen oft neuen, edlen Zwirn auf. An Geld fehlte es den Müllers offensichtlich nicht. Ganz anders der kauzige Sepp vom anderen Ende des Dorfes – er hatte doch glatt den dritten Sonntag hintereinander dasselbe Hemd an, bemerkte sie. Der Bengel vom Nachbarhof hatte seine Nase nicht geputzt, und einer seiner Schnürsenkel war offen.
„Ja mei“, dachte die Brigitte bei sich, „kein Wunder bei den Eltern.“ Gedanken waren bekanntlich frei, sie zog nur unmerklich eine Augenbraue hoch, winkte jedoch freundlich hinunter. Ein weiterer Vorteil ihrer Position auf der Empore war der erhabene, aufwertende Standort. So weit oberhalb der anderen konnte man so wunderbar unangestrengt hinab winken und sie mussten alle herauf schauen. Schließlich wäre es unhöflich gewesen, die Bürgermeister-Gattin nicht zu grüßen. Neben ihr saß ihr Mann, und zu Brigittes Verdruss war er wieder einmal müde, noch bevor der Gottesdienst überhaupt begonnen hatte. Seinem äußeren Erscheinungsbild musste sie des Öfteren auf die Sprünge helfen, und gerade, wenn es darauf ankam, wie etwa jetzt, saß er zusammen gesunken da und hing seinen unbedeutenden Gedanken nach.
„Erwin“, raunzte sie ihn an, „reiß dich gefälligst zusammen, die Leute sehen dich ja!“.
Erwin sah auf, nickte kurz und raunte etwas, dann erhob er sich widerwillig. Brigitte seufzte nur. Wo war überhaupt ihr Sohn Alexander? Weit und breit war er nicht zu sehen, dabei hätte er schon längst neben ihr sitzen sollen.
Nach und nach begaben oder trollten sich, je nach meist weithin sichtlicher Gemütsverfassung, alle in die Kirche und nahmen ihre Plätze auf den Bänken ein. Brigitte unterzog weiterhin die Körperbedeckungen ihrer Mitmenschen einer erfahrenen und kritischen Prüfung, um die Feststellung nicht zu versäumen, ob vielleicht jemand einen neuen Hut trug oder neue Schuhe. Das konnte ja auch ein Hinweis auf eine Erbschaft sein…. Der Gottesdienst begann, und Brigitte Meier ließ mit zufriedener Miene ihren Blick über die Andächtigen schweifen. Plötzlich durchzuckte es sie heftig. Der Schorsch war nicht an seinem Platz! Ob er heute anderswo saß? Sie hatte nicht auf ihn geachtet, meist war der Schorsch kein interessantes Subjekt, er war immer pünktlich und zuverlässig und in seinem Leben gab es nie ernsthafte Neuigkeiten, die für sie von Interesse gewesen wären. Aber heute war er nirgends zu sehen. Das konnte ja nicht sein! Ob er etwa krank geworden war?
Der Schorsch hatte ehrlich nicht vorgehabt, den Gottesdienst zu verpassen. Er war stets zur Stelle, wenn es darum ging, den Worten des Pfarrers zu lauschen. Nur, es war ihm, ganz unbeabsichtigt und unvorhergesehen, etwas dazwischen gekommen. Und er hatte rein gar nichts dafür gekonnt. Wie er sein Sonntagsgewand angelegt, den Hut mit dem Gamsbart aufgesetzt und seinen Stock zur Hand genommen hatte, den er normalerweise beschwingt neben sich her schwang – mehr zur Belustigung und zum Schmuck, als dass er eine Stütze gebraucht hätte – da hatte er es gehört. Ein seltsames Geräusch, irgendwo hinter seiner Scheune. Erst hatte er sich nur kurz umgesehen, wollte weiter gehen. Aber dann hatte er es wieder gehört, laut und deutlich. Ein irgendwie leidendes Geräusch. Als ob jemand Schmerzen hätte. Dann ein Schaben und Poltern. Da musste der Schorsch natürlich nachsehen gehen. Prompt fand er die Quelle des Geräusches – es war ein Fohlen vom nahe gelegenen Gestüt. Es stand hinter Schorschs Scheune, und als dieser näher kam, schnaubte es nervös. Es hatte die Augen weit aufgerissen, so dass das Weiße darin sichtbar war.
„Ruhig, mein Kleines“, sagte der Schorsch sanft, und dann noch einmal „ruhig“.
Er ging langsam auf das Fohlen zu, und als er nah genug heran gekommen war, streichelte er es am Kopf. Dann sah Schorsch, dass das Tier sich mit einem seiner hinteren Hufe in einer Drahtschlaufe verfangen hatte und mit dem Huf stampfte. Schorsch hatte den Draht nichtsahnend dort liegen lassen, er konnte ja nicht wissen, dass er diesen Besuch bekommen würde.
„Wieso bist du denn nicht zu Hause bei deiner Mama, sondern hier bei mir, hm?“ sagte der Schorsch und rieb die weiche Schnauze des Fohlens.
„Das haben wir gleich“, meinte er, und mit einer Zange befreite er das Tier, stülpte ihm jedoch zuvor einen Strick mit einer Schlinge über den Kopf.
„Damit du mir nicht abhaust, du kleiner Wildfang.“ Schorsch war gerade noch rechtzeitig gewesen. Hätte das Fohlen länger panisch an seinem Huf gezerrt, es hätte sich wundscheuern und verletzen können. Schorsch nahm den Strick und führte das Fohlen hinüber zu dem Gestüt. Es war niemand da – schließlich waren alle in der Kirche.
Brigitte Meier war unruhig. Sie konnte gar nicht richtig zuhören bei dem, was der Pfarrer vorne sagte. Wo war nur der Schorsch? Wieso war er nicht gekommen? Hatte er möglicherweise etwas Wichtigeres zu tun gehabt? Und wenn ja, was? Sie schaute zuerst auf ihre eine Seite, wo ihr Sohn Alexander saß. Wortlos und mit hängenden Schultern war er in letzter Sekunde in die Kirche geschlurft und hatte sich neben sie plumpsen lassen. Was denn los sei, hatte sie gefragt
„Gar nichts“, hatte er mürrisch erwidert. Kinder in der Pubertät, was konnte es Schöneres geben! Dann schaute sie zur anderen Seite, wo ihr Mann Erwin komische Geräusche machte, wie das Puffen einer Spielzeuglokomotive. Entsetzt sah sie, dass Erwin wohl eingenickt war. Er hatte vergessen seinen Hut abzunehmen, war in der Bank herunter gerutscht und von seiner Kopfbedeckung hatte sich das Band gelöst und hing vorne über die Krempe. Während er so leise vor sich hin schnarchte, bewegte sich das Band bei jedem Ausatmen nach vorne, nur um gleich darauf wieder angesaugt zu werden. So puffte Erwin und mit ihm schwang das Hutband, vor und zurück, vor und zurück.
Unsanft stieß ihn Brigitte in die Seite.
„Erwin!“ zischte sie entsetzt, „nimm deinen Hut ab!“. Und plötzlich hatte sie Angst, dass sie jemand gesehen haben könnte. Der Platz auf der Empore hatte auch Nachteile. Schnell sah sie hinunter, doch die anderen schienen nichts gemerkt zu haben. Erleichtert wollte sie sich zurück lehnen, doch dann bemerkte sie, dass alle zu den Gesangsbüchern griffen. Hastig nahm sie ihres zur Hand und verpasste den Einsatz – hektisch begann sie, nach der richtigen Seite zu blättern.
Schorsch stand vor dem Zaun der Koppel, auf dem die Mutter-Stute des Fohlens an seinem Strick stand. Sie kam sofort angetrabt und begrüßte das Kleine freudig. Da sah Schorsch, dass der Zaun an einer Stelle ein schmales Loch hatte.
„So bist du also ausgebüchst“, sagte er und lachte leise. „Na, gut, dass ich dich gefunden habe, bevor noch etwas passiert ist.“ Und weil der Schorsch gutmütig war und handwerklich geschickt, machte er sich daran, auch noch gleich den Zaun zu flicken. Das Fohlen hatte er derweil angebunden, und als er fertig war, öffnete er ein Gatter und ließ es hinein. Glücklich liefen beide Pferde über die Wiese. Der Schorsch stand zufrieden daneben und grinste. „Der kleine Racker“, sagte er zu sich selbst. Ob er dem Gestütsbesitzer von dem Vorfall erzählen sollte? Schließlich hatte er ja alles schon wieder in Ordnung gebracht und es war keine große Sache gewesen. Ohnehin war der Schorsch kein Mann vieler Worte.
Nur etwa eine Stunde später, als Schorsch wieder zu Hause war, klingelte es heftig an der Tür. Als er öffnete, stand da die Frau des Bürgermeisters vor ihm, mit finsterer Miene. Sie schien leicht außer Atem, eine gelöste blonde Haarsträhne zitterte vor ihrer Stirn.
„Wo waren Sie denn heute beim Gottesdienst?“, fragte sie nach kurzer Begrüßung ohne Umschweife und spähte neugierig hinter den Schorsch in seine Wohnung. Sie reckte den Hals, als gäbe es dort wertvolle Juwelen oder den verlorenen Schatz der Urahnen zu entdecken.
„Öhm“, machte Schorsch.
„Sie waren nicht da, und dabei hat’s so eine schöne Predigt gegeben. Sie haben es glatt verpasst“, sagte die Meierin, und sah ihn streng an.
„Was hat der Herr Pfarrer denn gesagt?“ wollte der Schorsch wissen.
„Öhm“, sagte jetzt die Meierin und schien zu überlegen. Er dachte schon, sie wisse es nicht, da besann sie sich plötzlich und meinte hochnäsig: „Na, da müssen Sie halt nächstes Mal schon selber kommen! Und die zwei Mädel vom Gemeinderat sei Töchter haben so nett am Schluss noch ein paar Zeilen vorgetragen…“
Der Schorsch räusperte sich.
„Also, warum waren Sie denn heute nicht bei uns?“ fragte sie jetzt wieder und ihr Blick bohrte sich in ihn. Ihm wäre lieber gewesen, sie hätte wieder nach versteckten Juwelen in seinem Flur Ausschau gehalten. Einer Eingebung folgend, hustete der Schorsch jetzt von ganz tief unten hervor, in der Hoffnung, es würde sich vielleicht irgendwo etwas lösen und seinem Husten eine authentische Heiserkeit verleihen. Er wollte nicht sagen, wo er tatsächlich gewesen war, oder was er gemacht hatte. Das würde in seinen Augen ein schlechtes Bild auf den Gestütsbesitzer werfen und ihn nachlässig aussehen lassen. Außerdem ging es sie nichts an.
Sie beäugte ihn kritisch prüfend. Der Schorsch hustete noch einmal inbrünstig und mühevoll, dann zeigte er auf seinen Hals.
„Is innen alles total angeschwollen“, erklärte er murmelnd, „ich kann kaum sprechen.“
„So, so“, meinte die Meierin und schaute argwöhnisch.
Der Schorsch räusperte sich erneut kräftig und hustete danach wie zufällig nach vorn in ihre Richtung. Sie wich zurück, nicht wirklich überzeugt.
„Also dann, bis nächsten Sonntag“, sagte sie streng, ließ keinen Zweifel an der Dringlichkeit ihrer Aussage und machte sich davon. Schorsch röchelte etwas Unverständliches zum Abschied. Drinnen kicherte er nur – der liebe Herrgott würde schon ein Einsehen mit ihm haben.
Am nächsten Sonntag saß Brigitte Meier wieder vor allen anderen an ihrem Platz auf der Empore und wartete, während die Schar der Dorfbewohner in die Kirche kam. Sie beobachtete das Geschehen wie der Adler von seinem Horst aus, der am Boden auch die kleinste Maus zu erspähen vermag. Ihre spezielle Aufmerksamkeit galt jedoch selbstverständlich einer bestimmten Person. Der Schorsch würde es nicht wagen, seiner Sonntagspflicht erneut fern zu bleiben. Mit wachsender Ungeduld spähte sie hinunter und vergaß fast ihr freundliches Winken. Schließlich ertönte der Glockenschlag, der Gottesdienst begann. Der Schorsch war nicht aufgetaucht! Eine Ungeheuerlichkeit! Da erst bemerkte sie mit noch größerem Entsetzen, dass ihr Sohn Alexander ebenfalls nicht anwesend war. Ja, griff denn die Sünde um sich?
Wiederum war Schorsch in bestem Gewand und mit ebensolcher Absicht auf dem Weg zur Kirche gewesen. Nichts hätte ihm ferner gelegen, als nicht in den Gottesdienst gehen zu wollen. Er war nicht gerade früh dran, wäre jedoch noch rechtzeitig gewesen, wenn nicht – ja wenn da nicht vor dem Eintreten in die Kirche etwas Ungewöhnliches seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Er hörte ein scharrendes Geräusch, und als er um die Ecke der Kirchenwand spähte, sah er etwas Rotes an der Seitentür auf und ab hüpfen. Das kam ihm merkwürdig vor, und er beschloss, das Phänomen einer näheren Prüfung zu unterziehen. Wie sich heraus stellte, war das Rote ein feines Sonntagshemd, sein Träger ein Bengel, der sich dort an der Seitentür auf die Zehenspitzen gestellt hatte und hinein zu starren schien. Der Schorsch schwang seinen Stock und versetzte dem Burschen damit eins aufs Hinterteil.
„Au“, schrie der und fuhr erschrocken herum. Schorsch wollte sich den Jungen am Ohr greifen, da sah er, dass es sich um Alexander, den Sohn der Bürgermeisterin handelte. Also fragte er stattdessen: „Was machst du denn hier draußen?“ Alexander blickte zu Boden. Schorsch sah zur Seitentür. Diese war aus Holz, und jetzt konnte Schorsch sehen, dass sich dort ein Astloch befand, durch das Alexander ins Innere der Kirche hatte blicken können. Kurz sah auch der Schorsch hindurch – da waren die gefüllten Reihen, der Pfarrer war von hinten zu sehen, in der ersten Reihe saß die Familie des Gemeinderats mit ihren Töchtern Anna und Laura, daneben der Gestütsbesitzer mit seiner Familie, dahinter Oma Eisele – nichts Ungewöhnliches zu sehen. Schorsch konnte sich nicht recht einen Reim darauf machen, und fragte Alexander wieder: „Was wolltest du denn da?“
Alexander sah so kleinlaut und ertappt aus, dass Schorsch Mitleid hatte. Er zeigte auf einen in der Nähe liegenden Baumstamm, und sie setzten sich nebeneinander darauf. Dann führten sie ein echtes Männergespräch. Nach anfänglichem Herumdrucksen rückte Alexander allmählich mit der Sprache heraus. Anna, die ältere der beiden Gemeinderats-Töchter, war das Ziel der Spähaktion gewesen. Von oben, von der Empore, hatte Alexander sie nämlich nicht richtig sehen können. Und er konnte sie ja nicht vor allen Leuten anstarren – bereits letzten Sonntag schon hatte er das Astloch gesehen – na und da hatte er sich eben gedacht… Sein Blick wurde leicht träumerisch, als er von ihren Haaren erzählte und den blauen Augen. Schorsch legte ihm brüderlich eine Hand auf den Arm und nickte wissend. Beide saßen dort schweigend eine Weile.
„Werden Sie es meiner Mutter erzählen?“ fragte Alexander.
„Öhm“, sagte Schorsch. „Sehe ich eigentlich keinen Grund dazu“, murmelte er dann. „Aber da so hinter dem Astloch zu hängen, ist ja auch keine Lösung“, setzte er nach.
Alexander schaute wieder beschämt zu Boden. Schorsch überlegte einen Moment. Dann sagte er: “Weißt du, Frauen mögen Geschenke.“
„Hm“, machte Alexander. Dann schwiegen beide wieder eine Zeit lang.
„Und die Anna isst wahnsinnig gerne Schokoladenkuchen“, fügte der Schorsch schlau hinzu. „Das hab ich beim letzten Dorffest gesehen, weißt du.“
Die zwei saßen nur so da, keiner sagte ein Wort, während sie vor sich hin dachten.
„Meinen Sie, ich sollte…“ sagte Alexander schließlich. Dann stockte er.
„Vielleicht kann es nicht schaden“, antwortete der Schorsch.
Nachdem beide noch eine Weile so da geruht und in den Himmel geschaut hatten, stand der Schorsch auf und klopfte Alexander aufmunternd auf die Schulter. Dann griff er zum Abschied an seinen Hut, neigte kurz den Kopf und ging, den Stock munter schwingend, davon.
Geraume Zeit später am selben Tag klingelte es an seiner Tür Sturm. Die Meierin stand da, herausgeputzt und mit einem Federhut auf dem Kopf, holte tief Luft und wollte zu sprechen ansetzen – doch der Schorsch war vorbereitet. Er hatte sich eine gute Menge Schnupftabak in die Nase geschoben, zückte jetzt ein Taschentuch und nieste herzhaft hinein, kräftig und saftig.
„Ach je“, sagte die Bürgermeisterfrau. „Jetzt erzählen Sie mir bloß nicht…“
„Ich habe einen schlimmen Schnupfen“, sagte der Schorsch und nickte bekräftigend. Er schnäuzte sich geräuschvoll in das Taschentuch.
„Letzte Woche war es der Husten, und jetzt wollen Sie mir sagen…“ setzte Frau Meier an.
„Ja, mich hat es wirklich ziemlich erwischt“, sagte Schorsch in sein Taschentuch. „Ich brüte wohl etwas aus.“
Er hatte nicht vor, ihr zu sagen, wo er gewesen war. Oder mit wem er gesprochen hatte. Das war schließlich Ehrensache. Sie setzte wieder an zu sprechen, da machte Schorsch laut „Hatschi!“ und meinte, er müsse jetzt dringend wieder hinein gehen und seinen Kamillentee kochen. Die Feder an ihrem Hut bebte, als Brigitte Meier wütend davon stapfte. Offenbar hatte sie ihm nicht geglaubt. Schorsch schenkte sich ein kühles Bier ein, setzte sich an seinen Tisch uns sagte zufrieden: „Prost!“ Was konnte er dazu, dass der Herrgott die wichtigen Dinge immer sonntags morgens zu ihm schickte. Immerhin, dachte er, war die Farbe seines Getränks der von Kamillentee nicht unähnlich.
Eine Woche später konnte es Brigitte Meier nicht fassen, als der Huber-Schorsch wieder nicht in der Kirche auftauchte. Eine Unverfrorenheit ersten Grades! Zu allem Überdruss hatte sie gesehen, dass ihr Sohn der Gemeinderats-Anna irgendwas zugesteckt hatte. Wie ein kleines Bündel in einer Serviette hatte es ausgehen. Diesmal war ihr Standort auf der weiter entfernten Empore ein echtes Hindernis gewesen.
„Was hast denn du der Anna gegeben?“ fragte sie ihren Sohn, als der neben sie kam.
„Ich? Öhm, also – Taschentücher“, sagte Alexander.
Die Meierin schüttelte den Kopf. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber der fehlende Schorsch war augenblicklich das dringendere Problem. Während des Gottesdienstes musste Brigitte ihren Mann wieder zweimal anrempeln, damit der sich senkrecht hielt. Nach dem Gottesdienst bekreuzigte sie sich mehrmals, eilte dann zum Huber‘schen Haus, und bekreuzigte sich erneut. Diesmal würde sie sich nicht abwimmeln lassen. Als die Tür geöffnet wurde, stand da der Schorsch im Unterhemd, die Augen rot unterlaufen, die Nase triefend. Mit einer von einer Grippe gebeutelten Stimme sagte er nur: „Morgen, Frau Meier.“
Sie starrte ihn an. War das Rote unter seinen Augen Schminke? Und wie hatte er seine Haut so fahl gemacht? Sein Hustenanfall klang scheußlich echt und gar nicht gesund.
„Äh, ja, guten Morgen, Herr Huber – ich“ – sie kam nicht weiter. Ein Niesanfall beutelte den Schorsch so, dass sein Körper zitterte. Er sah sie aus seinen roten Augen heraus an.
„Ich, äh“, sagte sie, „äh, wollte nur – nachdem Sie ja schon länger nicht mehr in unserer heiligen Predigt waren –“
„Da wollten Sie mir ein paar Segensgrüße bringen, ja?“
„Ja, genau“, sagte sie und bekreuzigte sich erneut. „Der Herr sei mit Ihnen!“ sagte Sie.
„Mit Ihnen auch“, krächzte der Schorsch. „Und wenn Sie nichts dagegen haben, dann würd‘ ich mich jetzt gern selig zurückziehen, ich brauch nämlich ‘ne Mütze Schlaf! Ich brüte schon seit zwei Wochen diese Grippe aus – Sie wissen ja, so was kann dauern…“.
Die Meierin erinnerte sich wieder, im Apothekenblättchen gelesen zu haben, dass sich eine echte Grippe mehrere Wochen hinziehen konnte – und äußerst ansteckend war. Sie verabschiedete sich rasch, und presste sich im Gehen ein Taschentuch vor den Mund.
Drinnen musste der Schorsch grinsen. Er war zwar diesmal tatsächlich erkältet, allerdings erst seit zwei Tagen. Es handelte sich höchstens um einen grippalen Infekt, in ein paar Tagen würde er wieder fit sein. Kichernd und trotz seines Zustands bester Laune schlüpfte er in sein Bett.
Eine Woche später, am heiligen Sonntag, ging der Schorsch kerngesund in den Gottesdienst. Er freute sich schon, einige Leute aus dem Dorf wieder zu sehen. Aus einiger Entfernung beobachtete er, wie Alexander Anna etwas zusteckte. Beide grinsten, und der Schorsch tat es auch. Als er näher kam, sprach er Erwin Meier, den Bürgermeister, an.
„Morgen Herr Meier, wie geht’s Ihnen denn?“
„Danke, bestens“, antwortete dieser und man tauschte sich aus. Nach einer kurzen Weile angeregter Unterhaltung fragte Schorsch: „Wo ist denn Ihre Frau Gemahlin heute?“
„Oh“, antwortete Erwin Meier eifrig, „die hat sich irgendwie eine schwere Grippe zugezogen. Sie meint, es könnte gut und gerne einige Wochen dauern, bis sie wieder auf dem Damm sei.“
„Oh“, sagte der Schorsch. „Na, dann meine besten Wünsche zur Genesung“, fügte er freundlich hinzu.
Schorsch setzte sich in eine der hinteren Bänke, und dann ertönten die Glocken. Während des Gottesdienstes sah Schorsch sich um. Oben auf der Empore saßen Erwin und Alexander Meier. Alexander lehnte über der Brüstung und lächelte. Schorsch sah nach vorne – in der ersten Reihe hatte Anna sich umgedreht und sah zu ihm hinauf. Zufrieden blickte Schorsch auf Erwin. Der saß selig, in sich hinein versunken, schlummernd in seiner Bank und hatte mal wieder vergessen, seinen Hut abzunehmen. Sicher genoss er seine himmlische Ruhe. Sein Kopf war nach vorn gefallen, und das Hutband hatte sich gelockert. Langsam, im Gleichtakt mit seinem Atem, wurde es nach vorn geblasen, fiel wieder zurück, ging wieder nach vorne…
Zufrieden verließ Schorsch einige Zeit später den Gottesdienst – und gerade wie er durch das Kirchenportal nach draußen schritt, da war es ihm, als täten sich über ihm die Wolken auf und Sonnenlicht fiel auf ihn und die anderen herab. Wie zum Gruß hob er kurz seinen Hut ab, während er nach oben blickte. Dann setzte er ihn wieder auf und ging fröhlich pfeifend, den Stock schwingend, nach Hause.
Recht am Text: Anja Teuner. Keine Veröffentlichung oder Kopie ohne meine Zustimmung.
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